Die Legende von den Vögeln
Für Hansi
Sie heißen die Göttervögel, weil sie unsterblich sind.
Schweben sie erst einmal in den Lüften, sind sie von den Schwerkräften der Erde entbunden.
Sie brauchen keine Nahrung aufzunehmen, da sie sich vollständig selbst genügen.
Nie landen sie auf dem Boden, ihr Aufenthalt sind ausschließlich die höchsten Regionen der Luft, sie schlafen auch in der freien Höhe, sie lieben sich unter offenem Himmel und über der offenen Erde, sie scheinen nichts zu brauchen außer Höhe und Weite,
als seien sie imstande, sich durch die Nabelschnur der eigenen Seligkeit zu versorgen.
Der einzige Augenblick im Göttervogelleben, in dem dieses losgelöste Dasein in Gefahr kommt, gestört zu werden, existiert ganz am Anfang.
Denn als erdentbundene Geschöpfe legen die Göttervögel ihre Eier in die Luft.
Während das Ei aus größter Höhe der Erde entgegenfällt, brütet die Sonne es aus.
Wenn die Mutter hoch genug geflogen ist, dann ist die Zeit, die bis zum Ausschlüpfen des Jungen vergeht, gerade ausreichend, damit das stürzende Ei noch über der Erde von innen her zersprengt wird -
der Göttervogel schlüpft in der Luft aus, er fühlt den Sturzwind in den Federn,
er fängt sich im freien Fall, er breitet die Flügel aus und beginnt wieder zu steigen.
So ist zu der Gattung der seltenen und wunderbaren Vögel ein neues Exemplar hinzugekommen.Aber längst nicht alle Jungen sind so glücklich, noch über der Erde auszuschlüpfen
und sich noch in der Luft zu fangen.
Vielleicht flog der Muttervogel bei der Eiablage nicht, wie nötig, bis in die äußersten Höhen, vielleicht haben Wolken die Sonne verdeckt und dem stürzenden Objekt
die zum Brüten nötige Wärme vorenthalten, jedenfalls kommt es mehr als einmal vor,
dass die Zeit für das Götterküken nicht genügt, um sich rechtzeitig zu befreien.
Die Schwerkraft ist zu stark, der Sturz zu schnell, die zusammengepresste Gestalt des Vogels bleibt in dem kalkigen Gefängnis eingeschlossen, während der Erdboden sich bedrohlich nähert.
Verzweifelt will das Junge heraus, aber es ist zu spät, die Erde saugt mit ungeheurem Sog das stürzende Ei zu sich hinunter, und so geschieht, was nie hätte geschehen dürfen und was sich doch allzu oft ereignet, das Ei zerschellt am Boden.Wie betäubt steckt das Junge in der zerbrochenen Schale,
es ahnt noch einmal, dass es versäumt hat, rechtzeitig aufzufliegen,
flügellahm liegt es auf der Erde, vom Blitz getroffen, von Helligkeit und Schwere niedergeschmettert.
Nun wird es nie mehr fliegen lernen.
Ist der erste Schock vorüber, so rafft es sich auf, es flattert auf der Stelle, dann resigniert es vor der Schwerkraft und versucht, wenigstens selber gehen zu lernen.
Das gelingt auch meistens - manche von den abgestürzten Göttervögeln reden in ihrem späteren Leben immerzu davon, wie wichtig für ihresgleichen der aufrechte Gang sei.
Aber soviel die vertikalen Tiere auch auf dem Erdboden herumlaufen,
sie werden nie das Gefühl abschütteln,
dass etwas mit ihnen nicht völlig in Ordnung ist.
In einem verborgenen Winkel ihres Gedächtnisses lebt eine Ahnung davon weiter,
dass einmal andere Möglichkeiten offen standen,
die ihnen vorenthalten blieben.
Eine indische Legende nach P. Sloterdijk
Vergebliche Flucht
Es lebte einmal ein Kaiser von China, Sohn des Himmels und mächtigster Herrscher der Welt.
Eines Abends stürzte plötzlich sein oberster Gärtner dem Kaiser vor die Füße:
"Oh, allmächtiger Herr, " ,rief er, "eben, als ich deine Rosenbüsche begoss, sah ich vor mir den leibhaftigen Tod. Hinter einem Baum spähte er hervor und drohte mir mit der Faust! Sicher will er mir an das Leben! Leihe mir, Herr, dein schnellstes Ross, das rascher ist als der Westwind, und lass mich entfliehen nach deinem verborgenen Schloss Tschanga, dort wird mich der Tod nicht finden. Nach dem Aufgang des Mondes kann ich dort sein!"
"Nimm das Ross", sagte der Kaiser, "um sein Leben zu bewahren, muss man alles einsetzen!"
Der Gärtner stürmte davon nach den Ställen. Bald hörte man den Hufschlag des entfliehenden Rosses
und wie der Blitz verschwand es.Sinnend ging der Kaiser weiter. Aber plötzlich sah auch er den Tod dicht vor seinem Weg mitten in den Rosen, doch der Kaiser fürchtete sich nicht, sondern trat ihm rasch entgegen und fuhr ihn an: "Warum erschreckst du mir meinen Gärtner und bedrohst mir meine Leute hier?"
Tief verneigte sich der Tod und sagte: "Erhabener Herr, Sohn des Himmels, verzeihe mir, dass ich dich erzürnte, ich habe deinen Gärtner nicht bedroht. Als ich ihn so unerwartet hier vor mir in deinen Rosen sah, konnte ich mir ein Zeichen der Verwunderung nicht unterdrücken. Denn heute früh, als der Herr des Himmels, Euer Gebieter und der unsere, seinen Dienern seinen Befehle gab, da gebot er mir, diesen deinen Diener heute Abend bei Mondaufgang in deinem Schloss Tschanga abzuholen.
Darüber wunderte ich mich, dass ich ihn hier traf, so weit von jenem Schlosse entfernt."Da neigte sich der Kaiser ehrfürchtig vor dem Herrn über Leben und Tod und dachte:
"Da rast nun der Mann auf dem schnellsten Pferd, das niemand einholen kann,
vor dem Schicksal fliehend,
seinem Schicksal entgegen."
aus : 1001 Nacht
Das Märchen von der traurigen Traurigkeit
Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht, und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei der zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel erkennen.
Das Wesen, das da im Staub auf dem Wege saß, schien fast körperlos. Sie erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen. Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte:
"Wer bist du?"
Zwei fast leblose Augen blickten müde auf."Ich? Ich bin die Traurigkeit" ,
flüsterte die Stimme stockend und leise, dass sie kaum zu hören war.
"Ach, die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte grüssen.
"Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch.
"Natürlich kenne ich dich! Immer wieder hast du mich ein Stück des Weges begleitet."
"Ja, aber...", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?"
"Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtling einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?"
"Ich... bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme.
Die kleine alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich so bedrückt."
Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. "Ach, weißt du", begann sie zögernd und äußerst verwundert,
"es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest."
Die Traurigkeit schluckte schwer.
"Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie
sagen: Man muss sich nur zusammenreißen. Und spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."
"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir schon oft begegnet."
Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen.
"Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh.
Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu."
Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt:
Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in
ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlte, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. "Weine nur, Traurigkeit",
flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt."
Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin:
"Aber ......aber - wer bist eigentlich du ?"
"Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen:"Ich bin die Hoffnung."
von Inge Wuthe